CRISTINA BRACCHI [ 1] 

“Ein Waldenser-Roman

von Marina Jarre”

»Im Morgengrauen weckte ein Donnern Margherita. Während sie aufwachte, donnerte es weiter. Sie fühlte ihre Füße kalt in den Wollstrümpfen und neben sich die kleine rundliche Wärme des gegen sie zusammengerollten Brüderchens. Und gleich darauf hörte sie das Geräusch des Brotmessers: Die Großmutter neben der Feuerstelle am Ende des Stalls - da war schon der Geruch nach dem Rauch des wiederentfachten Feuers - schnitt das Brot auf.«

Das Incipit des Romans Ascanio e Margherita von Marina Jarre, erschienen 1990 in Turin bei Bollati Boringhieri, eröffnet die Erzählung mit raschen und wirkungsvollen deskriptiven Strichen, führt ein in den Kontext einer bäuerlichen Familie waldensischen Glaubens in den Bergen des Val Pellice im westlichen Piemont, die mit fortgerissen wurde von den tragischen Ereignissen, die dem Edikt von Fontainebleau von 1685 folgten. Die Gewalt der Verfolgungen der waldensischen »religionari« in den Pinerolo-Tälern im Lauf des folgenden Jahres seitens der Truppen Ludwigs XIV. und des Herzogs Viktor Amadeus II., erzählt mit nüchterner aber eindringlicher Konzentration auf das Wesentliche, stets dem wechselnden Geschick der jungen Protagonistin Margherita folgend, ist eine der Auswirkungen der komplexen und wandelbaren historisch-politischen Verflechtungen, in welche die Monarchien involviert sind, die danach streben im Inneren Stabilität zu suchen und außerhalb die Aspekte wechselseitiger Stärke abzutasten; all dies noch gemäß dem Prinzip der Allianz von Thron und Altar, das seine ideologische und pragmatische Schlagkraft erst mit dem Laizismus des 18. Jahrhunderts verlieren wird. Trotz ihrer peripheren Lage sind das Piemont Viktor Amadeus' II., das Turin des barocken Glanzes und die Täler der Waldenser direkt mit hineingezogen in die harten politischen  und  militärischen Konflikte. Der Widerstand, der Exodus, die Zerstreuung in die Schweizer Kantone, nach Brandenburg und Württemberg, die Rückkehr der »barbetti« (der Piemont-Waldenser) in ihre Gebiete und das schwierige Zusammenleben mit den Katholiken sind existentielle und historische Stationen einer religiösen Minderheit, deren Existenzberechtigung emblematisch illustriert wird durch das schmerzreiche Geschick von Margherita und von Ascanio, einem jungen Kadetten aus adeliger Familie. Durch ständige Verflechtung persönlicher und kollektiver Schicksale veranschaulicht Marina Jarre in emotionsgeladenen Kapiteln - trotz auktorialer Erzählperspektive stehen Wertungen und Standpunkte der Handlungsfiguren im Vordergrund - das Drama der religiösen Verfolgung und das Drama individueller Freiheitsbeschränkung durch familiäre, kulturelle und soziale Bindungen in einer doch im Wandel begriffenen Epoche. Der Eintritt in das Jahrhundert der Aufklärung begleitet den Emanzipationsprozess der beiden Protagonisten vor dem geographischen Hintergrund eines Kontinents, der aufgeteilt erscheint in einen protestantischen, freien und arbeitsamen Norden und einen katholischen, wirtschaftlich und sozial zurückgebliebenen Süden.

Ein historischer Roman mit Anklängen an Manzoni: durch die erzählerische Anlage, die getrennt den Geschicken der beiden Liebenden folgt; durch das Mittel einer Liebesgeschichte mit Hindernissen, zweckdienlich für die Schilderung einer Epoche und ihrer in die Gegenwart hineinwirkenden Elemente; durch die Typologie von Personen, die zwar repräsentativ erscheinen für epochenimmanente Ambiencen und Situationen, sich jedoch den erzählten Rollen selbst entziehen - kraft jener menschlichen und psychologischen Züge, mit denen die Autorin sie versieht und autonom macht. Auch der Bezug zur Geschichte gestaltet sich dynamischer und ungezwungener durch Preisgabe des Begriffsjunktims »historisch wahr« / »wahrscheinlich« zugunsten einer Idee von Geschichte, die eben durch Fiktion »wahrer« und realer erscheint. In den Vordergrund tritt der Sinn für die Notwendigkeit der Erinnerung an historische Tatsachen, bei der die dokumentierte Gegebenheit jedoch zurücktritt zugunsten einer erzählerischen, in der Erinnerung einprägsameren Handlung. In den Vordergrund tritt ferner das Gespür für die Ereignisgeschichte und für kleinere und kleinste Geschehnisse, aus der Geschichte letztlich besteht (nicht aus sekundären und abgetrennten, diplomatischen Konzeptionen hörigen Vorstellungen von Geschichte). Bedeutung kommt ferner dem Erbe der italienischen Romangattung zu, das, bei aller Treue zur Lektion Manzonis, die historische Untergattung und die Beziehung zwischen Geschichte und Narrativik neu reflektiert hat; mit innovativen und außergewöhnlichen Ergebnissen, vor allem im 20. Jahrhundert durch Maria Bellonci, Anna Banti, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Umberto Eco. Darüber hinaus geht bei Marina Jarre die Wahl des historischen Romans einher mit der Fähigkeit der Handhabung von narrativen Elementen der Romantradition im breitesten Sinne. Man denke an das waldeinsame, staunende, herzbebende Aufeinandertreffen Ascanios und Margheritas, das an Tancredi und Clorinda in Torquato Tassos Epos La Gerusalemme liberata erinnert. Oder an die Rastlosigkeit Ascanios und an die Motive seines Reisens durch Italien und Europa, welche die Gestalt von Ugo Foscolos Jacopo Ortis behutsam ins Gedächtnis rufen. Hervorhebenswert die gewandte Kunst des Zitierens, nachweisbar auch im Selbstzitat »Un leggero accento straniero« (»ein leichter fremdländischer Akzent«; bezogen auf das Italienisch einer österreichischen Dame), Titel eines früheren Romans (Torino, Einaudi 1973; Erstfassung 1968 u.d.T. Monumento al Parallelo). Dort bricht in das dichte Netz von ineinander verzahnten Geschichten einer Gruppe von jungen Leuten im Turin der 60er Jahre mit Vehemenz die Tragödie der nazistischen Verfolgungen herein. Auch hier also: Notwendigkeit der Erinnerung, Verantwortung der historischen Erinnerung, winzige und alltägliche Begebenheiten, Seite an Seite mit der »Banalität des Bösen«.

In Ascanio e Margherita durchziehen traumatische, traurige Ereignisse die Phasen der subjektiven Identitätsbildung der Protagonistin. Das Gleichgewicht zwischen Instinkt und Weisheit ermöglicht es Margherita, den existentiellen Zwiespalt zwischen Notwendigkeit und Wunsch, zwischen den Elementen der Identität ihrer waldensischen Heimatgemeinde und dem Bewusstsein ihrer selbst, errungen durch eigenständige Prüfung ihrer anerzogenen familiären, religiösen und kulturellen Prinzipien, zu bewältigen. Das Ergebnis ist die Treue zu sich selbst auch und vor allem bei der Entscheidung, sich aufzuteilen (»exiliert von einem Teil ihrer selbst«), die Tochter und die Söhne und die Gemeinschaft, von der sie Schutz empfangen hatte, zu verlassen, um ihre Liebe mit Ascanio zu leben. Die Eigenständigkeit, mit der sie zu handeln vermag - sie, eine Frau von fünfunddreißig Jahren -, ist eine zähe und langsame Eroberung, gefestigt durch Unterrichtung, die ihr durch glücklichen Zufall während des schweizerischen Aufenthalts nach der Flucht aus den Tälern zuteil wird. Diese Eigenständigkeit ist das Resultat von Einsicht in den Wert der Gewinnung von Wissen und Mut auch und gerade durch Frauen; von Erkennung der eigenen Würde als Frau, nicht mehr nur als Waldenserin; und nicht zuletzt des verzweifelten Mutes, mit Gott zu hadern. Margherita ermächtigt sich, frei zu sein, nicht nur innerlich und geistig, sondern auch konkret, indem sie eine Bindung löst, nicht ohne zuvor die Existenzschuld an ihre Heimatgemeinde bezahlt zu haben, die ihr gestattet zu leben, aber ohne für sie Verständnis aufzubringen. Für diese Schritte muss sie sich freilich auf die atavistischen Mannesprivilegien der herrschenden, durch Ascanio repräsentierten Kultur stützen. Und wenn der junge Aristokrat durch sein standesfremdes Verhalten und seine Mentalität Entscheidungen und Hakungen vorwegnimmt, welche die künftigen Generationen von kultivierten und aristokratischen, dem Ancien régime abholden Piemontesen kennzeichnen werden, so artikuliert Margherita narrative Persönlichkeit und Spiegel einer wirklichen Lebenssituation, die Möglichkeit eines Neuüberdenkens menschlicher Beziehungen innerhalb der verschiedenen Institutionen, auf denen das menschliche Zusammenleben basiert, allen voran des Paares, So fügt sie sich in die Reihe jener musterbildenden weiblichen Figuren der italienischen Literatur ein, die im 20. Jahrhundert mit Una donna (1906) von Sibilla Aleramo exemplarisch begann.

Mit Ascanio e Margherita hat Marina Jarre ihre Qualitäten als Romanschriftstellerin unter Beweis gestellt, die dann durch nachfolgende Werke bestätigt wurden. Souverän bewegt sie sich nicht nur in dem vielleicht meistdiskutierten Roman-Genre, nämlich dem historischen, sondern auch in der Behandlung einer Thematik und in einer Episode aus der Geschichte des Piemont, die in der Narrativik nur selten zum Zuge kommen. Ohne Ideologismus, ohne Rhetorik und im Gegenteil mit dokumentierter Genauigkeit hat sie ein künstlerisches und historiographisches Werk über die Stadt Turin und ihre Umgebung vorgelegt, die sie, die 1925 in Lettland Geborene, als zweite Heimat wählte.

Übersetzung: Hildegard Heydenreich

 

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16/09/03


 [ 1]Cristina Bracchi: ZIBALDONE - Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, N. 31, Rotbuch Verlay, März 2001