“Ein Waldenser-Roman von Marina Jarre” |
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»Im Morgengrauen weckte ein Donnern Margherita. Während sie aufwachte,
donnerte es weiter. Sie fühlte ihre Füße kalt in den Wollstrümpfen und neben
sich die kleine rundliche Wärme des gegen sie zusammengerollten Brüderchens.
Und gleich darauf hörte sie das Geräusch des Brotmessers: Die Großmutter neben
der Feuerstelle am Ende des Stalls - da war schon der Geruch nach dem Rauch des
wiederentfachten Feuers - schnitt das Brot auf.«
Das Incipit des Romans Ascanio e Margherita von Marina Jarre,
erschienen 1990 in Turin bei Bollati Boringhieri, eröffnet die Erzählung mit
raschen und wirkungsvollen deskriptiven Strichen, führt ein in den Kontext
einer bäuerlichen Familie waldensischen Glaubens in den Bergen des Val Pellice im westlichen Piemont, die mit
fortgerissen wurde von den tragischen Ereignissen, die dem Edikt von
Fontainebleau von 1685 folgten. Die Gewalt der Verfolgungen der waldensischen »religionari« in den Pinerolo-Tälern
im Lauf des folgenden Jahres seitens der Truppen Ludwigs XIV. und des Herzogs
Viktor Amadeus II., erzählt mit nüchterner aber eindringlicher Konzentration
auf das Wesentliche, stets dem wechselnden Geschick der jungen Protagonistin
Margherita folgend, ist eine der Auswirkungen der komplexen und wandelbaren
historisch-politischen Verflechtungen, in welche die Monarchien involviert
sind, die danach streben im Inneren Stabilität zu suchen und außerhalb die
Aspekte wechselseitiger Stärke abzutasten; all dies noch gemäß dem Prinzip der
Allianz von Thron und Altar, das seine ideologische und pragmatische
Schlagkraft erst mit dem Laizismus des 18. Jahrhunderts verlieren wird. Trotz
ihrer peripheren Lage sind das Piemont Viktor Amadeus' II., das Turin des
barocken Glanzes und die Täler der Waldenser direkt mit hineingezogen in die
harten politischen und militärischen Konflikte. Der Widerstand, der
Exodus, die Zerstreuung in die Schweizer Kantone, nach Brandenburg und
Württemberg, die Rückkehr der »barbetti« (der
Piemont-Waldenser) in ihre Gebiete und das schwierige Zusammenleben mit den
Katholiken sind existentielle und historische Stationen einer religiösen
Minderheit, deren Existenzberechtigung emblematisch illustriert wird durch das
schmerzreiche Geschick von Margherita und von Ascanio, einem jungen Kadetten
aus adeliger Familie. Durch ständige Verflechtung persönlicher und kollektiver
Schicksale veranschaulicht Marina Jarre in emotionsgeladenen Kapiteln - trotz auktorialer
Erzählperspektive stehen Wertungen und Standpunkte der Handlungsfiguren im
Vordergrund - das Drama der religiösen Verfolgung und das Drama individueller
Freiheitsbeschränkung durch familiäre, kulturelle und soziale Bindungen in
einer doch im Wandel begriffenen Epoche. Der Eintritt in das Jahrhundert der
Aufklärung begleitet den Emanzipationsprozess der beiden Protagonisten vor dem
geographischen Hintergrund eines Kontinents, der aufgeteilt erscheint in einen
protestantischen, freien und arbeitsamen Norden und einen katholischen,
wirtschaftlich und sozial zurückgebliebenen Süden.
Ein historischer Roman mit Anklängen an Manzoni: durch die erzählerische
Anlage, die getrennt den Geschicken der beiden Liebenden folgt; durch das
Mittel einer Liebesgeschichte mit Hindernissen, zweckdienlich für die
Schilderung einer Epoche und ihrer in die Gegenwart hineinwirkenden Elemente;
durch die Typologie von Personen, die zwar repräsentativ erscheinen für
epochenimmanente Ambiencen und Situationen, sich jedoch den erzählten Rollen
selbst entziehen - kraft jener menschlichen und psychologischen Züge, mit denen
die Autorin sie versieht und autonom macht. Auch der Bezug zur Geschichte
gestaltet sich dynamischer und ungezwungener durch Preisgabe des
Begriffsjunktims »historisch wahr« / »wahrscheinlich« zugunsten einer Idee von
Geschichte, die eben durch Fiktion »wahrer« und realer erscheint. In den
Vordergrund tritt der Sinn für die Notwendigkeit der Erinnerung an historische
Tatsachen, bei der die dokumentierte Gegebenheit jedoch zurücktritt zugunsten
einer erzählerischen, in der Erinnerung einprägsameren Handlung. In den
Vordergrund tritt ferner das Gespür für die Ereignisgeschichte und für kleinere
und kleinste Geschehnisse, aus der Geschichte letztlich besteht (nicht aus
sekundären und abgetrennten, diplomatischen Konzeptionen hörigen Vorstellungen
von Geschichte). Bedeutung kommt ferner dem Erbe der italienischen Romangattung
zu, das, bei aller Treue zur Lektion Manzonis, die historische Untergattung und
die Beziehung zwischen Geschichte und Narrativik neu reflektiert hat; mit
innovativen und außergewöhnlichen Ergebnissen, vor allem im 20. Jahrhundert
durch Maria Bellonci, Anna Banti, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Umberto Eco.
Darüber hinaus geht bei Marina Jarre die Wahl des historischen Romans einher
mit der Fähigkeit der Handhabung von narrativen Elementen der Romantradition im
breitesten Sinne. Man denke an das waldeinsame, staunende, herzbebende
Aufeinandertreffen Ascanios und Margheritas, das an Tancredi und Clorinda in
Torquato Tassos Epos La
Gerusalemme liberata erinnert. Oder an die Rastlosigkeit Ascanios
und an die Motive seines Reisens durch Italien und Europa, welche die Gestalt
von Ugo Foscolos Jacopo Ortis behutsam ins Gedächtnis rufen. Hervorhebenswert
die gewandte Kunst des Zitierens, nachweisbar auch im Selbstzitat »Un
leggero accento straniero« (»ein leichter fremdländischer Akzent«;
bezogen auf das Italienisch einer österreichischen Dame), Titel eines früheren
Romans (Torino, Einaudi 1973; Erstfassung 1968 u.d.T. Monumento
al Parallelo). Dort bricht in das dichte Netz von ineinander
verzahnten Geschichten einer Gruppe von jungen Leuten im Turin der 60er Jahre
mit Vehemenz die Tragödie der nazistischen Verfolgungen herein. Auch hier also:
Notwendigkeit der Erinnerung, Verantwortung der historischen Erinnerung,
winzige und alltägliche Begebenheiten, Seite an Seite mit der »Banalität des
Bösen«.
In Ascanio e Margherita durchziehen traumatische, traurige Ereignisse die
Phasen der subjektiven Identitätsbildung der Protagonistin. Das Gleichgewicht
zwischen Instinkt und Weisheit ermöglicht es Margherita, den existentiellen
Zwiespalt zwischen Notwendigkeit und Wunsch, zwischen den Elementen der
Identität ihrer waldensischen Heimatgemeinde und dem Bewusstsein ihrer selbst,
errungen durch eigenständige Prüfung ihrer anerzogenen familiären, religiösen
und kulturellen Prinzipien, zu bewältigen. Das Ergebnis ist die Treue zu sich
selbst auch und vor allem bei der Entscheidung, sich aufzuteilen (»exiliert von
einem Teil ihrer selbst«), die Tochter und die Söhne und die Gemeinschaft, von
der sie Schutz empfangen hatte, zu verlassen, um ihre Liebe mit Ascanio zu
leben. Die Eigenständigkeit, mit der sie zu handeln vermag - sie, eine Frau von
fünfunddreißig Jahren -, ist eine zähe und langsame Eroberung, gefestigt durch
Unterrichtung, die ihr durch glücklichen Zufall während des schweizerischen
Aufenthalts nach der Flucht aus den Tälern zuteil wird. Diese Eigenständigkeit
ist das Resultat von Einsicht in den Wert der Gewinnung von Wissen und Mut auch
und gerade durch Frauen; von Erkennung der eigenen Würde als Frau, nicht mehr
nur als Waldenserin; und nicht zuletzt des verzweifelten Mutes, mit Gott zu
hadern. Margherita ermächtigt sich, frei zu sein, nicht nur innerlich und
geistig, sondern auch konkret, indem sie eine Bindung löst, nicht ohne zuvor die
Existenzschuld an ihre Heimatgemeinde bezahlt zu haben, die ihr gestattet zu
leben, aber ohne für sie Verständnis aufzubringen. Für diese Schritte muss sie
sich freilich auf die atavistischen Mannesprivilegien der herrschenden, durch
Ascanio repräsentierten Kultur stützen. Und wenn der junge Aristokrat durch
sein standesfremdes Verhalten und seine Mentalität Entscheidungen und Hakungen
vorwegnimmt, welche die künftigen Generationen von kultivierten und
aristokratischen, dem Ancien
régime abholden Piemontesen kennzeichnen werden, so artikuliert Margherita
narrative Persönlichkeit und Spiegel einer wirklichen Lebenssituation, die
Möglichkeit eines Neuüberdenkens menschlicher Beziehungen innerhalb der
verschiedenen Institutionen, auf denen das menschliche Zusammenleben basiert,
allen voran des Paares, So fügt sie sich in die Reihe jener musterbildenden
weiblichen Figuren der italienischen Literatur ein, die im 20. Jahrhundert mit Una donna (1906) von Sibilla
Aleramo exemplarisch begann.
Mit Ascanio e Margherita hat Marina Jarre ihre Qualitäten als
Romanschriftstellerin unter Beweis gestellt, die dann durch nachfolgende Werke
bestätigt wurden. Souverän bewegt sie sich nicht nur in dem vielleicht
meistdiskutierten Roman-Genre, nämlich dem historischen, sondern auch in der
Behandlung einer Thematik und in einer Episode aus der Geschichte des Piemont,
die in der Narrativik nur selten zum Zuge kommen. Ohne Ideologismus, ohne
Rhetorik und im Gegenteil mit dokumentierter Genauigkeit hat sie ein
künstlerisches und historiographisches Werk über die Stadt Turin und ihre
Umgebung vorgelegt, die sie, die 1925 in Lettland
Geborene, als zweite Heimat wählte.
Übersetzung: Hildegard Heydenreich
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16/09/03
[ 1]Cristina Bracchi: ZIBALDONE - Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, N. 31, Rotbuch Verlay, März 2001